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Mittelbrücke auf Föhr - seit 2023 ist sie leider Geschichte

Samstag, 3. September 2022

Stopping

Hallo, Ihr Lieben jenseits des Meeres - und auch ihr, hier auf der Insel, in dieser Flaschenpost möchte ich ein paar Gedanken aus der letzten Gute-Nacht-Kirche mit euch teilen.

Aufhänger war ein Zitat, das seit vielen Jahren an meinem Computer klebt, auf einem kleinen angeschmuddelten Zettelchen, leider ohne Quellenangabe:
Das „Stopping“ – das Innehalten im Alltag, z.B. beim Hochfahren eines Computers, bei einer Pause zwischen zwei Arbeitsgängen) ist die säkulare Wiederentdeckung ursprünglich christlicher Lebensweise: Das Atemholen im Gebet.
Mich erinnert dieser Satz immer daran, dass auch diese kleinen "erzwungenen" Pausen eine Wohltat sein können - auch wenn es mich natürlich oft ärgert, wenn der Computer mal wieder mehr Zeit braucht, als ich ihm zugestehen möchte. Denn schließlich ist Zeit knapp, und die Arbeit unglaublich dicht geworden. Jedes kleine Stopping empfinde ich als störend im Arbeitsfluss. Und ich bin damit anscheinend nicht allein, denn beim Messenger-Dienst WhatsApp gibt es seit August eine Neuigkeit: man kann jetzt Sprachnachrichten in doppeltem Tempo anhören, parallel dazu kann man weitere Kurznachrichten an andere Teilnehmer senden und empfangen – also zwei oder mehr Kommunikationsvorgänge gleichzeitig und schnell erledigen.

Ich habe mich bei der Vorbereitung der Andacht daran erinnert, dass ich schon vor einigen Jahren einmal über dieses Thema nachgedacht habe. Damals wurde in einer Magazinsendung im Fernsehen eine Frau vorgestellt, die ein 300 Seiten starken Buch innerhalb einer Stunde komplett durchlesen konnte. Im Anschluss daran war sie in der Lage, Verständnisfragen richtig und ausführlich zu beantworten.

Und meine Tochter erzählte mir, dass sie sich Power-Point-Präsentationen mit doppelter Geschwindigkeit anschaut, um Zeit zu sparen.

Mich beeindrucken diese Fähigkeiten einerseits. Das will ich auch können. Wie viele Informationen würde ich wohl bekommen können, wenn ich in der Lage wäre, alles doppelt so schnell abzuarbeiten. Wie unglaublich produktiv würde sich meine Arbeit gestalten.

Aber ist das wirklich so?

Helfen mir diese oder ähnliche Strategien wirklich dabei, mit meiner Zeit verantwortlich umzugehen?

Zu der schnell-lesenden Frau wurde damals auch der mittlerweile verstorbene Literaturkritiker Hellmuth Karasek befragt, ob er ein Seminar zum Erlernen der Schnell-Lesetechnik besuchen würde. Er ließ sich viel Zeit mit seiner Antwort – und am Ende sagte er – für mich sehr überraschend: Nein.

Es passt absolut in unsere Gesellschaft, dass wir uns Gedanken darüber machen, wie wir noch mehr Zeit sparen können – und dass wir lediglich auf eine Erhöhung des Tempos als Lösung kommen: schneller lesen, schneller telefonieren, schneller Videos anschauen, schneller Autofahren, schneller…

Gleichzeitig betreiben wir ausgeklügeltes Zeitmanagement: die Termine werden in immer kürzeren Zeitabschnitten verabredet, häufig ist zwischen zwei Terminen nicht einmal eine 5-Minuten-Pause für den notwendigen Gang zum stillen Örtchen oder zum Trinken möglich. Ja, wir planen sogar unsere Pausen mit ein, damit wir sie dann auch wirklich haben.

Dass uns die Technik ermöglicht, bestimmte Dinge schneller erledigen zu können, das müsste uns glücklich machen. Durch doppeltes Lese, Hör- oder Sehtempo würden wir ja wirklich viel Zeit sparen können. Dennoch lehnte Karasek das ab. Seine Begründung gibt mir zu denken: „Selbstverständlich kann ich mich vor ein Bild, vor ein Kunstwerk hinstellen und in einer Sekunde erfassen, worum es geht. Aber es ist viel schöner, wenn ich für ein Kunstwerk eine halbe Stunde Zeit habe, um es zu genießen. Auch Sprache, Literatur ist ein Kunstwerk und will genossen werden.“

Vor einigen Jahren war ein Buch in aller Munde, es heißt „Die Entdeckung der Langsamkeit“. (Sten Nadolny, 1983) In diesem Roman geht es um einen jungen Mann, der die Zeit irgendwie anders wahrnimmt als seine Mitmenschen. Er nimmt einzelne Augenblicke so intensiv wahr, dass sie sich zu endlosen Ewigkeiten ausdehnen.

Zeit ist eine Aneinanderreihung von Augenblicken. Augenblick für Augenblick entfaltet sich unser Leben. Halte die Zeit an – und deine Lebenszeit wird angehalten, existiert nicht mehr.

Nein, ich will mich nicht mehr über den langsamen Computer ärgern. Ich will es lieber halten, wie im Anfangszitat: diese Pausen als kleine Mini-Gebetspausen nutzen - anschließend kann ich vermutlich erfrischt und mit neuer Kraft meine Arbeit weiterführen. Ich muss nicht alle 5 Minuten verplanen - es muss auch noch Zeiten für Unvorhergesehenes geben - und seien es diese kleinen erzwungenen Pausen mitten im Alltag.

Ihr Lieben jenseits des Meeres, und auch ihr, hier auf der Insel, ich wünsche euch zahlreiche Atempausen!
Monika


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