Im ersten Jahr Belsazars, des Königs von Babel, hatte Daniel einen Traum und Gesichte auf seinem Bett; und er schrieb den Traum auf:
Ich, Daniel, sah ein Gesicht in der Nacht, und siehe, die vier Winde unter dem Himmel wühlten das große Meer auf. Und vier große Tiere stiegen herauf aus dem Meer, ein jedes anders als das andere. (in den folgenden Versen werden die Tiere einzeln beschrieben - aber dieser Textteil ist nicht Bestandteil des Predigttextes.)
Da sah ich: Throne wurden aufgestellt, und einer, der uralt war, setzte sich. Sein Kleid war weiß wie Schnee und das Haar auf seinem Haupte wie reine Wolle; Feuerflammen waren sein Thron und dessen Räder loderndes Feuer. Da ergoss sich ein langer feuriger Strom und brach vor ihm hervor. Tausendmal Tausende dienten ihm, und zehntausendmal Zehntausende standen vor ihm.
Das Gericht wurde gehalten und die Bücher wurden aufgetan. Ich sah auf um der großen Rede willen, die das Horn redete, und ich sah, wie das Tier getötet wurde und sein Leib umkam und in die Feuerflammen geworfen wurde. Und mit der Macht der andern Tiere war es auch aus; denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte.
Ich sah in diesem Gesicht in der Nacht, und siehe, es kam einer mit den Wolken des Himmels wie eines Menschen Sohn und gelangte zu dem, der uralt war, und wurde vor ihn gebracht. Ihm wurde gegeben Macht, Ehre und Reich, dass ihm alle Völker und Leute aus so vielen verschiedenen Sprachen dienen sollten. Seine Macht ist ewig und vergeht nicht, und sein Reich hat kein Ende.
Eine solche Schilderung klingt für mich wie ein Alptraum der schlimmsten Sorte, dem man so schnell wie möglich entfliehen möchte. Als Kind tappt man dann mit dem Teddy im Arm ins Elternschlafzimmer, wo man unter der warmen Decke von Mama oder Papa Trost und Geborgenheit findet.
Ich habe ein wenig nachgelesen, wie diese Vision bisher gedeutet wurde. Einheitlich in allen Schriften, die ich dazu gelesen habe, fand ich die Deutung der vier Tiere auf zerstörerische bestialisch herrschende Weltmächte. Welche Weltmächte genau gemeint sein könnten, bleibt allerdings reine Spekulation. Für Daniel mag schon das babylonische Großreich eine solche Bestie gewesen sein, immerhin hat er am eigenen Leibe erlebt, wie sein Heimatland von Babylon eingenommen, der Tempel Gottes zerstört wurde und ein großer Teil der Oberschicht, inklusive Daniel selbst, ins Exil geschleppt wurde. Vielleicht zeigt deshalb das erste Tier eine Ähnlichkeit mit einem geflügelten Löwen – der ja das Wappentier Babylons war. Aber wie gesagt – das ist reine Spekulation. Beweisen lässt sich das nicht.
Dennoch: dieser Text ist auf jeden Fall mehr als ein schrecklicher Alptraum. Daniel beschreibt die vier Tiere, die aus dem brodelnden Gesamtmeer der Völker aufsteigen und mordend und fressend, wie Bestien, herrschen. Es braucht nicht viel Fantasie, um dafür Beispiele in Geschichte und Gegenwart zu finden. Aus dem Nichts werden Völker überfallen, Länder werden annektiert, Andersdenkende werden ausgeschaltet. Die Liste von Völkern, die in ihrer Geschichte irgendwann einmal gegenüber einem anderen Volk oder einer anderen Art von Gruppe wie ein wildes, unüberwindbares, mörderisches Tier aufgetreten sind, ist sehr, sehr lang. Aus unserer eigenen Geschichte wissen wir von den nationalsozialistischen Gräueltaten. Wir wissen aber auch von der Besiedelung Nordamerikas unter gleichzeitiger Vernichtung der eigentlichen Ureinwohner. Wir wissen von Sklavenhandel und Verschleppung der Afrikaner nach Mittelamerika. Wir wissen von Kolonialmächten, die Eigentum und Arbeitskraft der eroberten Völker gestohlen haben. Die Aufzählung wird immer länger und reicht bis in unsere Tage, wo Russland seinen Nachbarn Ukraine systemisch zu vernichten sucht.
Im Traum spürt Daniel die zerstörerische riesige Macht dieser Bestien – und erlebt gleichzeitig die eigene Ohnmacht.
Nein, so etwas möchte niemand träumen – und erleben möchte das schon erst recht niemand. Grausame Bilder sind es, die Daniel uns da überliefert.
Dann jedoch ändert sich das Bild – es ist wie ein Szenenwechsel im Film, wie ein Lichtstreifen am Horizont des Entsetzens. Es werden Throne hereingetragen – imposante Stühle, auf denen Machthaber sitzen. Einer, der uralt ist, setzt sich auf einen der Throne. Sein Gewand ist schneeweiß, seine Haare sind wie reine Schafwolle. In unserer Zeit streben wir danach, uns möglichst lange jung und fit zu erhalten. In Daniels Zeit jedoch hat man das Alter und damit die Erfahrung geehrt. Die weißen Haare, das weiße Gewand und das Prädikat „uralt“ sind Zeichen für eine ganz besondere Licht- und Führungsgestalt. Zudem besteht der Thron dieses außergewöhnlichen Wesens aus Feuerflammen, er besitzt feurige Räder, ein langer feuriger Strom ergießt sich von dem Thron her. Ich verstehe diese Schilderung so, dass Daniel hier ein besonders mächtiges Wesen sieht – einen Machthaber, dessen Feuer und damit dessen Macht allumfassend ist. Mit anderen Worten: er beschreibt Gott, dessen Namen ein frommer Jude niemals aussprechen würde, und über den wir keinerlei Vorstellung oder Bild haben. Man kann ihn einfach nicht beschreiben – denn wir sollen und können uns kein Bild von ihm machen. Ich verstehe diese Beschreibung hier eher als den stammelnden Versuch, die Wahrnehmung von Licht und Macht in halbwegs begreifbare Worte zu fassen. Eine schier unendliche Menschenmenge dient diesem Wesen und umgibt es.
Die Szene
wandelt sich ein weiteres Mal: das Traum-Bild wird zu einer Gerichtsszene – und
die Bücher werden aufgetan.
In einem
Traum wird selten etwas erklärt. Oft versteht man ohne Worte, worum es geht.
„Die
Bücher wurden aufgetan“.
Ja,
welche Bücher? Vielleicht solche Bücher, in denen die Schandtaten der
Übel-Täter stehen? Bei einer Gerichtsverhandlung gibt es ja zu Beginn eine
Anklageschrift – daran hat sich seit der Antike bis heute nichts geändert.
Daniels Blick fällt auf das vierte Tier, das als besonders mächtig und grausam beschrieben wird. Eines seiner 10 Hörner verselbständigt sich und wird zu einem eigenen Wesen mit Augen und einem Maul, das große arrogante Reden führt. Daniel sieht zu diesem Tier hin und sieht, wie es getötet und im Feuer vernichtet wird. Da kann er erahnen, dass auch die Macht der anderen mächtigen Bestien begrenzt ist, „denn es war ihnen Zeit und Stunde bestimmt, wie lang ein jedes leben sollte“. Die bestialische Macht der Weltbeherrscher ist zwar stark – aber nicht endlos!
Daniel
kann den Blick endlich abwenden von all dem Schrecklichen, das er gesehen hat.
Er sieht eine menschliche Gestalt, wie eines Menschen Sohn. Dieser kommt mit
den Wolken des Himmels und wird zu dem Uralten auf dem Feuerthron gebracht. Ihm
wird Macht, Ehre und Reich gegeben, alle Nationen und alle Sprachen sollen ihm
dienen.
Daniels
letzter Satz in dieser Vision heißt: Die Macht dieses Menschensohnes ist ewig
und vergeht nicht und sein Reich hat kein Ende.
Wie zu Beginn gesagt: diese Vision hatte Daniel ungefähr 500 Jahre vor Christi Geburt. Die gläubigen Juden und Jüdinnen warten bis heute auf diesen Menschensohn, auf diesen Messias.
Für uns
Christen und Christinnen ist Jesus Christus derjenige, den er da gesehen hat. Was Daniel da im Traum gesehen hat, ist sozusagen Christi Himmelfahrt aus der himmlischen Sicht - die Ankunft Jesu "im Himmel".
Mit der Ankunft dieses Menschensohnes im Gerichtssaal verändern sich die Herrschafts- und Machtverhältnisse.
Und wie ist das heute? Welche Alpträume drücken? Was beherrscht uns?
Natürlich
liegt der Vergleich zum Völkermord in der Ukraine nahe – eine dieser Bestien
könnte Russland sein – aber ich bleibe dabei: das ist reine Spekulation.
Allerdings
können wir nicht verleugnen, dass auch wir von fressenden Bestien beherrscht
werden: es herrscht über uns die Weltwirtschaft, die wie ein Moloch alle
Bemühungen erschwert, gemeinsam über Klimakatastrophen und
Menschenrechtsverletzungen Herr zu werden.
Gewinnoptimierung
nennen wir das heute. Im Namen dieser Gewinnoptimierung werden in vielen
Bereichen des Lebens und in vielen Gegenden dieser Welt Ressourcen vergeudet
und Lebensqualität zerstört. Das betrifft sowohl den Tourismus auf unserer
kleinen Insel Föhr, als auch Vernichtung von zum Beispiel Regenwald im großen
Stil oder Zugangsbeschränkungen zu Wasserreservoirs oder ähnlichem. Ich will
nicht in die Tiefe gehen – das führt zu weit.
Nicht
verleugnen können wir jedoch, dass wir uns auf einer stetig fortschreitenden
Spirale befinden, die uns unbarmherzig vorwärtstreibt und einen Sog erzeugt,
dem wir kaum etwas entgegenzusetzen haben. Wer kann sich dem herrschenden Geist
dieser Zeit entziehen, wer entkommt der Bestie namens Zeitmangel, wer entgeht
den fressenden Zähnen des Alltags, der uns auslaugt und bis zum äußersten
treibt?
Ich habe keine Patentlösung dafür. Aber ich finde in diesem Text einen kleinen „Ausweg“ einen Hinweis: es geht darum, den starren Blick von den Bestien dieser Welt abzuwenden und nach oben zu schauen – natürlich im übertragenen Sinne.
Den Blick
abwenden von dem, was lähmt, was schreckt, was uns auffrisst – das ermöglicht
uns, das Unmögliche für möglich zu denken. Das Wegschauen von den
Schreckensszenarien hin in den Gerichtssaal Gottes, das kann so ein Gefühl des
Geborgenseins erzeugen, wie wir es aus Kindertagen kannten, als wir vor dem
Alptraum ins elterliche Bett geflüchtet waren.
Wohl
gemerkt: das allein löst überhaupt kein Problem. Ein Gebet allein übrigens auch
nicht.
Aber wenn
ich mich nicht mehr schrecken lasse, dann kann das kleine Schritte in Gang
setzen. Jeder, der auch nur etwas tut, tut viel! um unsere Welt ein wenig
besser zu machen:
Jede
Verpackung, die ich nicht benutze, jedes Stück Plastik, das ich vermeide, jeder
Kilometer, den ich nicht mit dem Auto fahre, sondern lieber mit dem Rad – jedes
dieser kleinen Dinge bringt für sich genommen gar nichts. Aber zusammen mit
allen wird es viel. Es muss nicht einer allein die ganze Welt retten und alle unsere bedrohlichen Bestien besiegen - aber mit jedem kleinen Verzicht, mit jedem kleinen Anders-Handeln verlieren die scheinbar allmächtigen Bestien einen Teil ihrer Macht und ihres Schreckens.
An einer
Stelle im Leben den Blick abwenden von der herrschenden Meinung, das kann frei
machen, etwas Neues auszuprobieren.
Wie feiern allerdings heute nicht den offiziellen Tag des Verzichtes – darum greifen alle diese Gedanken immer noch zu kurz und können lediglich einen Gedankenanstoß bieten.
Wir
feiern heute Himmelfahrt.
In alten
Gemälden wurde dieses Ereignis oft so dargestellt, dass die Füße Jesu am oberen
Bildrand in den Wolken verschwinden.
Dass
Gott, dass Jesus nicht einfach oben im Weltraum schweben, ist klar. Das Wort
„Himmelfahrt“ versucht also nicht einen räumlichen Aufstieg zu beschreiben.
Eher geht es um das Eintreten in eine andere Dimension, von der wir Menschen
mit unseren irdischen Augen nichts sehen. Der Blick nach oben, die Erwartung
einer wir auch immer gearteten Abrechnung mit den herrschenden Bestien unserer
Tage – das ist mehr als eine bloße Vertröstung auf ein Jenseits. Der Blick nach
oben rückt Prioritäten zurecht und könnte uns helfen, trotz aller Zweifel an
der eigenen Wirksamkeit hier und dort etwas zu unternehmen, eben kleine
Schritte zu tun.
Dafür gibt es natürlich keine konkreten Anleitungen.
Aber, wer
etwas als richtig erkannt hat, der soll es auch tun! Das meine ich ohne den
moralischen Zeigefinger, sondern als Ermutigung.
An dieser Stelle habe ich im Gottesdienst eine kleine "Aktion" eingebaut: zu Beginn hat jede und jeder eine Karte bekommen. Darauf finden sich einige Bilder von Föhr. Aber das Eigentliche dieser Karte ist: sie ist quasi "endlos" - sie führt den Blick und damit die Gedanken weg - nach "oben".
Ihr Lieben, jenseits des Meeres, und auch ihr, hier auf der Insel: wenn ihr diese Karte auch haben möchtet, dann schreibt mir doch einfach eine Mail mit eurer Post-Adresse. Ich schicke euch gerne eine dieser Karten. Aber vielleicht reicht euch auch der folgende Film, den ich schon mal hier auf dem Blog und auch auf Instagram gezeigt habe. Aber was gut ist, kann man zweimal angucken.
Der weite Horizont, der hohe Himmel hier auf Föhr machen uns den Blick weit, lenken unsere Sicht automatisch nach oben. Hier scheint das einfacher zu sein, als in unseren engen Städten. Eingemauert, umgeben von Stein und Lärm, fällt es schwer, anderes als Enge und Bedrängnis zu fühlen und zu denken.
Am Strand von Föhr wird der Blick hingegen wie magisch vom Horizont angezogen und nach oben gelenkt. Da fällt es schwer, Enge und Bedrängnis zu empfinden.
Ich
wünsche uns diesen weiten Blick und ein weites Herz, um Möglichkeiten und Wege
zu entdecken, an die wir in den Alpträumen unseres Alltags niemals zu denken
gewagt hätten.
Ganz herzlich grüßt euch
Monika |
Lieben Dank;)
AntwortenLöschenDiese Rückmeldung/Kommentar kam genau zum richtigen Zeitpunkt! Ich freu mich drüber!
LöschenLiebe Monika,
AntwortenLöschengerne lese ich in Deinen Andachten und gönne mir so eine kleine Auszeit. Heute bin ich aber auf "Ideenklau", da ich ein Familienwochenende unserer Kirchengemeinde plane. Deine tolle Karte der Wolkenandacht hat es mir angetan. Daher meine konkrete Frage, könnte ich mehrere solcher Karten von Dir erwerben? Es wäre halt echt toll, wenn ich jeder Familie( 11 gesamt) eine schenken könnte.
Ich freue mich über eine Antwort und grüße herzlich auf die schöne Insel Föhr!
Auf jeden Fall schon mal herzlichen Dank für Deine Mühe und für Deine Gedanken, die Du immer wieder teilst und zum Nachdenken und schmunzeln anregen und oft schon tröstlich waren.
Grüße aus dem Süden nach dem Norden. Esther
Selbstverständlich bekommst du solche Karten. Schick mir per mail deine Postadresse - und sie machen sich zu dir auf den Weg!
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