Der Wochenspruch bestimmt ja immer das Thema des Sonntags, und lautet für diese Woche:
Selig sind, die Frieden stiften, denn sie werden Gottes Kinder heißen.Matth. 5, 9
Der Friedenskuss Schloss Friedenstein, Gotha (Von Flickr user Gregorius Mundus - Flickr photo Friede ernehret, Unfriede verzehret, CC BY 2.0, https://commons.wikimedia.org/w/index.php?curid=8712642:) |
Der Friedenskuss, so heißt das Bild, das ich passend zum Thema im WWW gefunden habe: 2 Frauen umarmen sich da herzlich, sie küssen sich. Wenn wir genau hinsehen, erkennen wir, dass die eine Frau ein Schwert und eine kleine Waage in der Hand hat, die andere dagegen trägt einen Palmwedel. Waage und Schwert zeigen an: es wird hier die Justitia, die Gerechtigkeit, dargestellt. Der Palmwedel ist das Attribut, das klar macht: diese Frau ist Friede. Gerechtigkeit und Friede umarmen sich und küssen sich – das ist das Thema dieses Gottesdienstes.
Der Predigttext ist Psalm 85:
Herr, du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande
und hast erlöst die Gefangenen Jakobs:
der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und all ihre Sünde bedeckt hast;
der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns:
Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns!
Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für?
Willst du uns denn nicht wieder erquicken,
dass dein Volk sich über dich freuen kann?
Herr, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!
Könnte ich doch hören, was Gott der Herr redet,
dass er Frieden zusagte seinem Volk
und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten.
Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten,
dass in unserm Lande Ehre wohne;
dass Güte und Treue einander begegnen,
Gerechtigkeit und Friede sich küssen;
dass Treue auf der Erde wachse
und Gerechtigkeit vom Himmel schaue;
dass uns auch der Herr Gutes tue
und unser Land seine Frucht gebe;
dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe
und seinen Schritten folge.
Darf ich fragen, was Du empfindest, wenn du diesen Text liest? Ist es Freude? oder Sehnsucht? oder Nachdenklichkeit? oder ein Gefühl von „Schön wär’s ja“? oder hat dich der Text völlig kalt gelassen?
Mich hat dieser Psalm nicht kalt gelassen, sondern sofort beim ersten Lesen angesprochen und seitdem immer weiter beschäftigt. Alle nur denkbaren Gefühlsregungen kommen darin vor und lassen sich miterleben.
Da ist zunächst der erste Teil, der den Blick in die Vergangenheit lenkt:
Herr, du bist vormals gnädig gewesen deinem Lande und hast erlöst die Gefangenen Jakobs: der du die Missetat vormals vergeben hast deinem Volk und all ihre Sünde bedeckt hast; der du vormals hast all deinen Zorn fahren lassen und dich abgewandt von der Glut deines Zorns.Der Psalmbeter erinnert sich: Gott war schon einmal gnädig, Gott hat schon einmal das Volk Israel aus einer langen Gefangenschaft errettet, Gott hat schon einmal dem Volk vergeben, wo es nach anderen Göttern geschaut hatte. Diese Erinnerung ist die Basis für alles, was noch weiter kommt.
Es ist eine schöne Erinnerung. Der Psalmist denkt an Wohltaten Gottes. Große Worte werden gebraucht: die Rede ist von Erlösung, Befreiung, Vergebung.
Das gab es schon einmal. Gott hat Israel aus der babylonischen Gefangenschaft befreit und nach Hause zurückgebracht.
Ich fühle bei diesen ersten Versen so etwas wie Dankbarkeit im Erinnern. Ein wenig Erleichterung schwingt mit und ganz viel Staunen über Gottes Größe und Güte: dass er seinen berechtigten Zorn nach hinten stellt und sein Volk rettet, obwohl es das nicht verdient hätte.
Diese Erinnerung an vergangene Wohltaten ist wichtig für den Psalmbeter. Daran hält er sich gedanklich fest.
Bevor wir den Psalm weiter anschauen, will ich noch einen ganz kurzen Moment in der Betrachtung dieser Vergangenheit bleiben.
Welche Erinnerungen würdest du hervorkramen, wenn du sich an Gottes Güte und Wohlgefallen erinnern willst?
Geh in deinen Gedanken einmal ein Stückchen rückwärts. Gibt es besonders schöne Erlebnisse? Kannst du dich an einem Moment erinnern, in dem du dich einfach nur wohlgefühlt hast?
Ich selbst kenne solche Momente. Manchmal sind es ganz kleine Erlebnisse, wie zum Beispiel die Tasse Kaffee, gemeinsam mit meinem Mann im Urlaub irgendwo draußen genossen, das Empfinden von Frieden und Muße. Wie gesagt, das ist ein ganz kleines Erlebnis. Vielleicht auch ein wenig banal. Aber ich möchte mir angewöhnen, diese kleinen Dinge bewusster wahrzunehmen und mir zu merken, damit ich mich in dunkleren Tagen daran erinnern kann.
Ein Urlaubsbild von meinem Mann Andreas und mir... |
Hilf uns, Gott, unser Heiland, und lass ab von deiner Ungnade über uns! Willst du denn ewiglich über uns zürnen und deinen Zorn walten lassen für und für? Willst du uns denn nicht wieder erquicken, dass dein Volk sich über dich freuen kann? Herr, zeige uns deine Gnade und gib uns dein Heil!Ich fühle aus diesen Zeilen so etwas wie Verzweiflung. Gott scheint ferne zu sein. Schlimmer noch: der Zorn Gottes scheint über dem Psalmdichter zu schweben.
Vielleicht können wir diese Gefühle ein wenig nachempfinden: wir alle wissen noch gut, wie es vor der Corona-Pandemie war: keine Masken, keine Kontaktbeschränkungen, keine Abstandsgebote. Und jetzt? Wann ist Corona endlich vorbei? Wann können wir wieder normal miteinander umgehen – ohne Maske, ohne auf Abstände zu achten oder ängstlich den Impf- oder Teststatus des Gegenübers nachzufragen?
Nein, die Gegenwart ist nicht locker und flockig. Wir erleben Einschränkungen, viele erleben die Zerstörung der eigenen Existenz und des hart erarbeiteten Wohlstandes.
Und es ist nicht nur Corona, die uns bedrückt.
Wir erleben den Klimawandel im eigenen Land. Die Flutkatastrophe aus diesem Sommer ist zwar nicht mehr in den täglichen Nachrichten, aber durchaus nicht vergessen.
Wir erleben in den Nachrichten auch erneut die Schwierigkeiten, mit denen Geflüchtete sich auseinandersetzen müssen, um aus ihren schwierigen Situationen entkommen zu können. Neue Fluchtrouten tun sich auf und werden wieder verstopft. Die Flüchtenden müssen mit Restriktionen rechnen und nehmen viel Ungemach auf sich.
Und auch die Lage in Afghanistan macht mich betroffen. Vor allem Mädchen und Frauen werden dort wieder unterdrückt.
Was bewegt dich selbst gegenwärtig?
Neben den ganz großen Themen wie Klimawandel, Fluchtbewegungen oder Unterdrückung in anderen Ländern gibt es ja auch noch die alltäglichen Erlebnisse, die wir tragen müssen.
Da gibt es Mobbing am Arbeitsplatz oder in der Schule, da gibt es Anforderungen im alltäglichen Leben, denen wir uns stellen müssen, und die uns oft überfordern.
Da erleben wir Krankheiten, auch solche, die sich nicht heilen lassen. Wir erleben auch das Abschiednehmen für immer. Ach, wenn es doch anders sein könnte…
Und der Psalm ist noch nicht zu Ende – denn jetzt kommt die Zukunft, und die sieht in den Augen des Psalmbeters rosig aus!
Könnte ich doch hören, was Gott, der Herr redet, dass er Frieden zusagte seinem Volk und seinen Heiligen, auf dass sie nicht in Torheit geraten. Doch ist ja seine Hilfe nahe denen, die ihn fürchten, dass in unserm Lande Ehre wohne; dass Güte und Treue einander begegnen, Gerechtigkeit und Friede sich küssen; dass Treue auf der Erde wachse und Gerechtigkeit vom Himmel schaue; dass uns auch der Herr Gutes tue und unser Land seine Frucht gebe; dass Gerechtigkeit vor ihm her gehe und seinen Schritten folge.So wird die Zukunft sein, davon ist der Psalmbeter zutiefst überzeugt. Gott sagt Frieden zu. Seine Hilfe ist nahe. Dass das mehr ist als eine hohle Phrase, das leitet der Psalmbeter aus der Betrachtung der Vergangenheit ab: schon mehr als einmal hat Gott sein Volk errettet und zu geistlichem und wirtschaftlichem Wohlstand geführt. Was einmal war, kann wieder werden.
Meine erste Reaktion auf diese Verse war: ach ja, eine schöne Vorstellung – aber nicht auf dieser Welt realisierbar. Eine Utopie. Vor allem der Satz: „Gerechtigkeit und Friede werden sich küssen“ hat mich angesprochen. Diese Vorstellung ist einfach zu schön.
Friede kann eigentlich nur wachsen, wo Gerechtigkeit herrscht. Und schon fange ich an zu fragen: was ist denn Gerechtigkeit?
Stellen wir uns mal eine Familie vor: zwei Erwachsene, zwei Kinder. Es gibt eine Torte für alle. Wie soll sie gerecht aufgeteilt werden?
Wir könnten die Torte in vier gleiche Stücke schneiden. Dann bekommt jeder in der Familie dieselbe Menge. Das fühlt sich gerecht an.
Aber vermutlich haben dann hinterher die Kinder Bauchschmerzen und die Erwachsenen haben immer noch Hunger. Also bekommen die Erwachsenen jeder ein Drittel der Torte, das restliche Drittel teilen sich die beiden Kinder.
Das fühlt sich auch gerecht an.
Aber es ist Schokoladentorte, und die Jüngste in der Familie liiiiebt Schokoladentorte so sehr, dass sie schon bei der Zubereitung ganz fleißig geholfen hat. Also möchte sie ein größeres Stück von der Torte abbekommen, als der ältere Sohn, der gar nichts zum Backen beigetragen hat.
Ist das denn wieder gerecht? Ich denke, wir könnten bis morgen früh diskutieren, die Torte wird hart und ungenießbar werden, bevor wir eine für alle akzeptable Lösung gefunden haben.
Das erfundene Beispiel macht deutlich: ohne Friede führt Gerechtigkeit zum Streit. Wenn sich Friede und Gerechtigkeit küssen, dann braucht niemand neidisch auf den anderen zu schielen, dann können wir Ungleichheiten akzeptieren, und trotzdem sind am Ende alle zufrieden.
Ach ja, wie schön das wäre. Uns allen ist klar: so einfach wird das nicht auf dieser Welt funktionieren.
Also wieder eine Vertröstung aufs Jenseits? Wir legen die Hände in den Schoß und warten darauf, dass Gottes Reich beginnt?
Ich sage: Nein, denn im Evangelium an diesem Sonntag haben wir gehört: Das Reich Gottes ist mitten unter euch.
Es darf hier und jetzt schon beginnen und wachsen. „Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein“ – so haben wir es im Evangelium gehört. Auf den weltumspannenden Frieden und die absolute Gerechtigkeit werden wir noch warten müssen, aber hier und da blitzt es auf, erleuchtet die ganze Umgebung und hüllt sich wieder in Dunkel.
Wir erleben das im Kleinen – deshalb habe ich zu Beginn der Predigt nach schönen und friedlichen Erinnerungen gefragt.
Hier und da dürfen wir Freundlichkeit erleben, wo wir sie nicht erwartet haben.
Die eine oder andere Krankheit kann geheilt werden.
Mobbing kann beendet werden. Ein Neuanfang ist möglich, auch in schwierigen menschlichen Beziehungen. Es kann Vergebung geben.
Aus dem eigenen Erleben der sogenannten „kleinen“ Dinge können wir die Zuversicht ziehen, dass sich auch die großen Probleme der Menschheit zu einem Guten entwickeln können. Wie das sein kann, weiß ich nicht. Ich habe keine Ahnung, ob wir die allbedrohende Krankheit namens Corona in den Griff bekommen.
Ich weiß nicht, wie wir im globalen Zusammenhang Gerechtigkeit und Frieden herstellen können, wie wir Fluchtbewegungen verhindern können oder wenigstens die Migration von Menschen menschlicher machen können.
Ich weiß nicht, wie wir letztlich die Klimakatastrophe aufhalten können.
Ich weiß nicht, wie wir Gerechtigkeit zwischen den Geschlechtern und den Generationen hinbekommen.
Einfach ist das nicht. Aber möglich. Denn das Reich Gottes ist ja mitten unter uns – und steht in seiner ganzen Erscheinung noch aus.
Noch haben sich Friede und Gerechtigkeit nicht geküsst, noch herrscht Unfriede überall auf der Welt und Ungerechtigkeit.
Und so zeigt mir der Psalm, dass es sich lohnt, sich einzusetzen für das, was ich für richtig erkannt habe. Und gleichzeitig mahnt mich der Psalm zu Geduld: nicht alles lässt sich im Handumdrehen gut machen. Ich spüre immer noch die Sehnsucht, die den Psalmbeter umtreibt, bis die unerträgliche Gegenwart sich in glückliche Zukunft wandelt.
Von den großen Themen dieser Welt komme ich wieder zurück auf mein eigenes kleines Leben. Denn das ist es, was ich zu gestalten habe, und nur das ist es, das ich gestalten kann. Aus Vergangenheit und Gegenwart entsteht die Zukunft, wobei wir die Vergangenheit liebend betrachten und die Gegenwart geduldig ertragen, dann können wir der Zukunft mit Freude und Spannung entgegengehen.
Christa Spilling – Nöker hat das in einen Segenswunsch gefasst, den ich euch gerne noch mitgeben möchte:
Gott segne dich, dass du zur Ruhe kommst,
dein Leben zu bedenken:
dass du dich versöhnen kannst mit dem,
was dir in der Vergangenheit misslungen ist,
und mit den Menschen,
mit denen du zerstritten bist,
und die Hoffnung auf gelingendes Leben
neu in dir erwacht.
Gott segne dich,
dass du jeden Tag
als erfüllte Zeit erlebst:
dass das Leiden von gestern
und die Angst vor morgen
ihre Schrecken verlieren
und die Botschaft vom Heil der Welt
auch in dir Gestalt gewinnt.
Gott segne dich,So weit meine Predigt vom letzten Sonntag - das war der drittletzte Sonntag im Kirchenjahr.
dass du dem Morgen
mit froher Erwartung entgegensiehst:
dass dir aus dem,
was dir bisher an Schönem gelungen ist,
Freude und Kraft für die Zukunft erwächst
und sich in dem, was du tust und was dir geschenkt wird,
deine Sehnsucht erfüllt.
Morgen ist Volkstrauertag. In vielen Gemeinden gibt es die Tradition, diesen Tag mit einer öffentlichen Kranzniederlegung an den Denkmälern für die Verstorbenen der letzten Kriege zu begehen. Diese Tradition ist durchaus umstritten - aber ich verstehe sie als Ermahnung gegen Unversöhnlichkeit und Krieg. Ich möchte am Volkstrauertag gerne an Frieden denken und nicht an Kriege. Ich möchte in meinen Gedanken und Träumen gerne noch ein wenig länger an der Utopie des Friedens hängen bleiben.
In diesem Sinne: mögen euch Gerechtigkeit und Friede küssen!
Monika |
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