Herzlich Willkommen auf meinem Blog

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Mittelbrücke auf Föhr - seit 2023 ist sie leider Geschichte

Samstag, 16. Oktober 2021

Die fremde Muschel

Hallo, Ihr Lieben jenseits des Meeres - und auch ihr, hier auf der Insel, in dieser Flaschenpost mache ich mir Gedanken über eine Muschel. Ich habe sie vor einiger Zeit geschenkt bekommen, und immer mal wieder in die Hand genommen.
eine ganz besondere Muschel...
Zu Tausenden liegen sie zu meinen Füßen,
achtlos trete ich darauf herum, höre den Kalk knirschen und denke mir nichts dabei.
Da – eine einzelne erweckt meine Aufmerksamkeit.
Eine unter den vielen – ich kann nicht widerstehen – ich muss mich bücken und sie aufheben.
Diese hier ist besonders.
Besonders schön
Besonders geformt
besonders gefärbt
besonders groß

Diese Muschel hier ist sowieso etwas ganz Besonderes, 
denn sie stammt nicht von hier. Sie lebt nicht im Wattenmeer vor Föhr, sondern weiter entfernt an der Atlantikküste, vor der Bretagne zum Beispiel. Diese Muschel in meiner Hand erzählt mir Geschichten von fremden Ländern und von Urlaubsreisen und Abenteuern.
Ich drehe die große fremde Muschel in meiner Hand, ich fühle mit meinen Fingerspitzen die Kanten.

Ach ja, ein wenig abgeschlagen sind die Kanten, nicht mehr so ganz glatt, sondern hier und da fühle ich kleine Kerben – wie bei einer alten Kaffeetasse, die schon viele Kaffeepausen und Spülgänge hinter sich hat.

Woher kommen die kleinen Kerben an der Außenkante meiner Muschelschale? Vielleicht sind sie ja erst nach dem Tod der Muschel entstanden, als die leere Schale in den Wellen hin und her geworfen wurde und über den sandigen Boden geschleift wurde?

Viel wahrscheinlicher ist aber, dass diese Kerben einfach Zeugen des gelebten Lebens sind. Vielleicht waren es Versuche von Möwen, sich Zugang zum leckeren Muschelfleisch zu verschaffen. Vielleicht hat die Muschel aber auch einfach mal zu fest zugeschlagen, so dass die beiden Schalenhälften zu schnell und zu kräftig aufeinander geprallt sind. Da kann schon mal ein Stückchen von der Kalkschale abbrechen.

Und auf manchen der Muschelschalen finden sich kleine Buckel oder fadenartige Verkalkungen: das sind die Spuren von anderen Lebewesen, kleinen Seepocken oder Würmern, die es sich auf der Muschel gemütlich gemacht haben und mit ihr zusammen vermutlich ganz gut gelebt haben. Spuren hinterlässt die Gemeinschaft aber immer, auch wenn sie friedlich verläuft.

Meine Aufmerksamkeit wendet sich der Innenseite der Muschel zu:

sie ist ziemlich glatt, nein, sie ist richtig glatt.
Die Innenseite schimmert ein wenig – fast wie eine Perle.

Ob in dieser Muschel wohl einmal eine Perle gewachsen ist? Tief verborgen im weichen lebendigen Inneren der Muschel wachsen die Perlen als Verteidigung gegen eingedrungene Fremdkörper oder Parasiten. Dass so etwas schönes aus Schmerz und Leid entstehen kann, fasziniert mich immer wieder.

Diese innere Seite der Muschelschale bekommen wir zu ihren Lebzeiten nie zu sehen.
Zu stark ist der Muskel, der die beiden Schalenhälften fest aufeinander hält.
Zu gefährlich wäre ein weites Öffnen der beiden Muschelhälften für das empfindliche Tier, das sich hinter den starken Schalen aus Kalk vor Fraßfeinden und schädlichen Umwelteinflüssen schützt.

Dennoch: die Muschel muss sich hin und wieder öffnen, denn nur so kann sie das Meerwasser in sich einsaugen, um daraus Nahrung zu filtern.
Damit erfüllt sie gleich einen doppelten Zweck: zum einen kann sie Plankton und Schwebteilchen aus dem eingesogenen Wasser für sich ausfiltern – aber zum anderen stößt sie das gefilterte Wasser wieder aus und sorgt damit für eine Reinigung des Meerwassers.

So dient der Augenblick, in dem sie sich öffnet und damit verletzlich macht, nicht nur ihr selbst, sondern auch der Allgemeinheit und ihrer Umgebung.

So fremd ist mir die fremde Muschel gar nicht mehr. Ich finde Parallelen zu meinem eigenen Leben:
    Auch ich habe hier und da Narben und abgeschlagene Kanten.
    Auch an mir kann man die Spuren des gelebten Lebens sehen.
    Und auch an und in mir hat gemeinschaftliches Leben mit anderen seine Spuren hinterlassen.

Und mein Inneres?
Nein, das zeige ich nur selten – nur dann, wenn ich mich sicher glaube, dann kann ich mich öffnen und mich verletzlich machen.
Ich verberge vergangenen Schmerz tief in mir – vielleicht wächst im Laufe der Zeit aus erduldetem Leiden eine Lebensperle.

Dennoch: auch wir müssen uns öffnen, müssen anderen Menschen begegnen, Freundschaften schließen und Anfeindungen aushalten.
Wie sehr wir das brauchen, hat die lange Zeit des Corona-Lockdowns gezeigt.

Wie schön ist diese eine Muschel - aber wenn ich an den Strand gehe, mit offenen Augen und offenem Sinn, dann werde ich unweigerlich weitere schöne Muscheln finden - jede einzigartig, jede mit ihrer eigenen Geschichte, mit ihren eigenen Macken und abgeschlagenen Ecken - aber doch jede wunderschön.
Da möchte ich laut mit einstimmen in das Lob des Schöpfers, der mit seiner unglaublichen Fantasie uns alle vielfältig und unterschiedlich gemacht hat:
Lobe den Herrn, meine Seele,
und vergiss nicht, was er dir Gutes getan hat.
Er vergibt dir alle deine Sünde
und heilt alle deine Gebrechen.
(Psalm 103, 1-3)
Es ist egal, was mir im Leben widerfährt, welche Kanten und Ecken ich mir abschlage, und welche Verwundungen an Leib und Seele ich mir zuziehe. Gott sieht alles an, was ich erlebt, gesehen, erfahren, gehört, gefühlt, gedacht habe. Er sieht alles an und sagt: Du bist mein Ebenbild – nach dem Bilde Gottes bist du geschaffen und ich habe dich lieb. Und was an dir unperfekt erscheint, was dich verletzt oder unglücklich gemacht hat, das will ich in glänzende Perlen verwandeln.

In diesem Sinne: seid gesegnet, Ihr Einzigartigen
Monika

Ein Wort an die lieben Biologen unter meinen Lesern: ja, ich weiß, dass diese Muschel keine Perlen entstehen lässt - die entstehen im Innern von Austern - aber dennoch: das Innere der Muschel ist so glatt und schimmernd, dass ich an Perlen erinnert werde...
Und an alle anderen Interessierten: es handelt sich bei meiner geschenkten, fremden Muschel um eine Kammmuschel (schreibt man das wirklich mit drei m?), auch bekannt unter dem Namen Jakobsmuschel.

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